Wir kennen das Gefühl alle: Eine Person in einer Geschichte gerät in eine aussichtslose Situation, möglicherweise ist sogar ihr Leben in Gefahr. Wir fiebern mit, flehen, dass der Person nichts passieren möge, dass sie aus ihrer misslichen Lage wieder herauskommt. Wenn das der Fall ist, hat der Autor oder die Autorin zuvor schon einiges richtig gemacht. Denn nur wenn uns ein Charakter in einer Geschichte nicht egal ist, kommt in einer solchen Situation Spannung auf.
„Ich bin überzeugt, dass wir die Insassen eines Autos kennen müssen, bevor wir den Autounfall sehen.“ (Sol Stein: Über das Schreiben)
So treffend beschreibt Sol Stein dieses Phänomen. Das gilt nicht nur für fiktionale Texte. Eine Schreckensmeldung aus den Nachrichten wirkt ganz anders, wenn man jemanden aus der betroffenen Region kennt. Genau das können Sie sich beim Schreiben zunutze machen. Und dafür brauchen Sie lebendige Charaktere.
Aber wie schaffen Sie es, Charaktere greifbar zu gestalten, authentisch wirken zu lassen? Beim Protagonisten mag das noch verhältnismäßig naheliegend sein, gerade bei Nebencharakteren gerät dieser Aspekt allerdings manchmal in Vergessenheit.
Fritz Gesing gibt in seinem Buch Kreativ Schreiben folgenden Schreibtipp: „Damit Nebenfiguren überhaupt in unser Bewusstsein treten und nicht sofort wieder ins Vergessen sinken, können manche ihrer Merkmale und Eigenschaften besonders auffällig sein, ja, wie bei Karikaturen überzeichnet werden. […] Wichtig ist, möglichst konkret und spezifisch zu sein, aber nichts an den Haaren herbeizuziehen.“
Es gibt viele unterschiedliche Wege, Nebencharaktere farbenfroh und lebensecht zu gestalten, zum Beispiel:
- Exzentrische Verhaltensweisen
- Ein besonderer Gegenstand, den jemand bei sich trägt
- Auffälliger Kleidungsstil
- Ein besonderer Name
- Sprecheigentümlichkeiten
Gestalten Sie die Figuren möglichst mehrdimensional. Sie sollten sowohl Stärken als auch Schwächen haben. Außerdem sollte ihr Handeln nachvollziehbar sein. Machen Sie sich Gedanken darüber, warum die Figur so ist, wie sie ist, und was ihre Motivation ist. Nebenfiguren müssen zwar nicht so detailliert ausgearbeitet werden wie die Protagonist*innen, doch auch sie sollten authentisch wirken und nicht nur auf eine bestimme Weise handeln, weil es gerade für den Erzählverlauf nützlich ist.
Versuchen Sie daher, Klischees zu vermeiden. Charaktere werden gerade dann lebendig, wenn sie gängigen Vorstellungen widersprechen. Wenn das Mitglied der Rockerbande heimlich strickt, wenn die Yogalehrerin in ihrer Freizeit auf die Jagd geht. Aber wie Fritz Gesing richtig sagt: Zu weit hergeholt sollten die Ideen auch nicht sein, Nebencharaktere müssen in sich stimmig bleiben. Das heißt, man sollte ihnen ihr Verhalten abnehmen.
Schreibtipp: Denken Sie an das letzte Buch, das Sie gelesen haben, oder den letzten Film, den Sie gesehen haben. Erscheint eine der Nebenfiguren auf Anhieb vor Ihrem inneren Auge? Und wenn ja: warum?