Welche Erzählperspektive wähle ich? Diese Frage sollten Sie sich vor dem Schreiben stellen, denn eine nachträgliche Änderung ist zwar möglich, aber immer mit viel Zeit und Arbeit verbunden. Denn die Erzählperspektive bedeutet mehr als die Wahl eines Personalpronomens und trägt enorm zur Wirkung einer Geschichte bei. Um es mit Sol Steins Worten auszudrücken: „Jede Perspektive beeinflusst die Gefühle des Lesers anders.“
Die gängigen Erzählperspektiven sind dabei folgende:
1. Erzählung in der ersten Person
(„Ich-Erzähler“)
Bei der Ich-Perspektive taucht der Leser direkt in den Kopf des Protagonisten ein. Er sieht die Welt durch seine Augen und bekommt Einblicke in seine Gedanken. Das schafft Nähe und lässt den Leser Emotionen deutlicher nachempfinden. Stilistisch sollten Sie den Text hierbei an die Ausdrucksweise des Erzählers anpassen. Ein Kind hat eine andere Ausdrucksweise als ein gelehrter Professor und so können Sie die Figur gleich indirekt charakterisieren.
Beispiel: Ich liege im Bett und starre die Decke an. Meine Gedanken kreisen um den morgigen Tag, meinen ersten Arbeitstag in der neuen Firma. Werden mich die neuen Kollegen mögen? Werde ich die Erwartungen erfüllen? Vor dem Fenster tobt ein heftiger Sturm. Das Pfeifen und das Rascheln der Blätter helfen auch nicht gerade beim Einschlafen. Frustriert drehe ich mich auf die Seite und drücke mein Kissen auf das freie Ohr.
2. Erzählung in der dritten Person
(„Personaler Erzähler)
Der personale Erzähler weist große Ähnlichkeiten zum Ich-Erzähler auf. Die einseitige Perspektive bietet dem Leser Konstanz und einen festen Rahmen. Auch er kann eine enge Bindung zu der Figur aufbauen, jedoch besteht diesmal eine etwas größere Distanz zum Erzähler. Der Leser hat nicht das Gefühl, in der Figur zu stecken, sondern bekommt die Geschichte aus erster Hand von ihr erzählt.
Beispiel: Max liegt im Bett und starrt die Decke an. Seine Gedanken kreisen um den morgigen Tag, seinen ersten Arbeitstag. Sein Kopf ist voller Fragen und außerdem tobt vor dem Fenster ein heftiger Sturm. Das Pfeifen und das Rascheln der Blätter helfen auch nicht beim Einschlafen. Frustriert dreht er sich auf die Seite und drückt sich das Kissen aufs freie Ohr, um den Lärm zu dämmen.
3. Auktoriale Erzählung
(„Allwissender Erzähler“)
Der auktoriale Erzähler hat einen Überblick über das gesamte Geschehen. Das ist vor allem bei einem komplexen Plot hilfreich. Er kann Hintergrundinformationen geben, die Situation kommentieren und dem Leser Einblicke in die Gedankenwelt verschiedener Figuren gewähren. So erhält der Leser Informationen, die bestimmten Figuren vorenthalten sind, und es entsteht ein Wissensgefälle zwischen Leser und Figur.
Beispiel: Max liegt im Bett und starrt die Decke an. Er kann vor Aufregung nicht einschlafen, denn morgen steht sein erster Arbeitstag an. Vor dem Fenster weht ein heftiger Sturm, doch noch ahnt Max nicht, welche Auswirkungen das auf sein Leben haben wird. Noch ist es seine größte Sorge, dass ihn die neuen Kollegen nicht mögen oder er seinen Job nicht gut machen wird. Doch das wird sich bald ändern.
Für eine Erzählperspektive entscheiden
Alle Perspektiven haben Vor- und Nachteile, aber welche passt nun zu Ihrer Geschichte? Fragen Sie sich selbst: Was wollen Sie erzählen? Wie viele Charaktere wollen Sie den Leserinnen näherbringen? Ist es für die Geschichte wichtig, in die Gefühlswelt von Nebencharakteren einzutauchen oder reicht die Innenansicht der Protagonistin aus?
Die Antworten liefern wichtige Anhaltspunkte dafür, welche Erzählperspektive für Ihre Geschichte geeignet ist. Weiterhin können Sie sich Vorbilder in der Literatur suchen. Welche Bücher haben Sie nachhaltig beeindruckt? Wo wurden Sie richtig in die Geschichte, in die Gefühlswelt der Charaktere gezogen? Welche Erzählperspektive wurde dabei genutzt? Passt diese zu dem, was Sie schreiben?
Wenn Sie immer noch unsicher sind, welche Erzählperspektive für Sie am besten passt, können Sie ein Probekapitel aus verschiedenen Sichtweisen schreiben. Hierbei merken Sie schnell, was Ihnen leicht von der Hand geht – und das ist oft ein gutes Indiz dafür, dass Sie die richtige Perspektive gefunden haben.
Multiperspektivisches Erzählen
Wer die Vorteile verschiedener Erzählperspektiven verbinden will, kann auch über multiperspektivisches Erzählen nachdenken. Wechselt man beispielsweise zwischen mehreren personalen Erzählern, können Informationsunterschiede zwischen den Protagonisten und den Lesern erzeugt werden – wie in einer Puppentheatersituation: Das Publikum hat den bösen Wolf längst erkannt, aber Rotkäppchen ist ahnungslos. Die Zuschauer rufen, um die Heldin zu warnen. Genau diesen Drang können Sie auslösen – und damit die Leser fesseln. Außerdem bietet das multiperspektivische Erzählen die Möglichkeit, Figuren von allen Seiten zu beleuchten und Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung auszumachen.
Ein Tipp zum Schluss
Springen Sie nicht zu stark zwischen den einzelnen Perspektiven. Wenn Sie sich einmal für eine Erzählperspektive entschieden haben, sollten Sie diese auch konsequent durchziehen – egal ob nun für das ganze Buch oder einen Erzählabschnitt. Beim Lektorat achte ich darauf, dass die Perspektive stimmig bleibt, ich frage beispielsweise: Kann die personale Erzählerin das, was sie gerade beschreibt, wirklich wahrnehmen oder springt der Autor möglicherweise unabsichtlich zur auktorialen Erzählung? Das passiert schneller als man denkt, etwa, wenn die Gedanken einer anderen Person erwähnt werden – oder deren Gefühlslage. Manchmal reicht es schon, eine Mutmaßung daraus zu machen.
Wie kann das konkret aussehen?
Anja, aus deren personaler Perspektive die Geschichte erzählt wird, merkt, dass ihr Gesprächspartner Marc nicht bei der Sache ist. Er hört ihr nicht zu. Der Autor schreibt daraufhin Folgendes: Marc war in Gedanken nur bei seiner Mutter. Vorsicht:Marc hat nichts davon gesagt. Kann Anja das also wissen? Sie kann es höchstens vermuten, dann passt die Perspektive wieder, zum Beispiel so: Marc schien in Gedanken nur bei seiner Mutter zu sein.
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Quellen:
Fritz Gesing, Kreativ schreiben, S. 266–270
Sol Stein, Über das Schreiben, S. 203–222