In der zweiten Jahreshälfte 2018 durfte ich erneut ein Jugendbuch für Beltz & Gelberg übersetzen: Squirm von Carl Hiaasen. Der Protagonist – insbesondere seine Erzählstimme – ist einfach großartig. Wie er seine Umwelt wahrnimmt, wie scheinbar abgeklärt und trotzdem empathisch er handelt, hat mich schwer beeindruckt. Im Juli 2019 erscheint das Buch unter dem Titel Schlangenjagd.
Billy Dickens’ Leben ist – schlicht verrückt: Mit Mutter und Schwester hat er schon an sechs verschiedenen Orten in Florida gelebt, weil seine Mutter darauf besteht, in der Nähe eines Adlerhorsts zu wohnen. Billy ist in der Schule als „Schlangenjunge“ verschrien, weil er einmal eine lebendige Klapperschlange in seinem Spind hatte. Vielleicht. Vielleicht war sie aber auch nur aus Gummi. Sein Vater hat die Familie verlassen und arbeitet für die Regierung. Vielleicht. Das weiß niemand so genau. Und jetzt hat Billy seine Adresse gefunden …
Hochgradig unterhaltsam, zuweilen bitterböse und leicht verdreht: ein Abenteuer über Drohnen, Umweltschutz und einen verlorenen Vater.
Intensive Recherche – mit tollen Helfern
Adler, Klapperschlangen, Flamingos, Drohnen, Fliegenfischen auf dem Yellowstone – in Schlangenjagd kommt so einiges vor. Dank des Internets ist es verhältnismäßig einfach, die entsprechenden Tiere zu finden, die im Original gemeint sind, und zu deren Aussehen und Verhalten zu recherchieren, wenn eine Situation nicht ganz klar wird. Es gibt zu so ziemlich allem YouTube-Videos. Aber hin und wieder war es dann doch verzwickter. Besonders beim Thema Angeln war ich schlichtweg überfordert, konnte nicht wirklich einschätzen, wie man die eine oder andere Bewegung authentisch auf Deutsch beschreiben würde. Zeit für ein großes Dankeschön an zwei gute Freunde: Erstens an Guido, der mir mit seinem Angel-Know-how tatkräftig zur Seite stand und mir erklärt hat, wie man eine Fliegenrute auswirft. Zweitens an Adam, der mir meine Fragen zu Quadrocoptern beantworten konnte, weil er selbst Drohnen benutzt, um unglaubliche Fotos zu machen.
Ich hab eine Menge weiterer Fragen, aber ich bin müde. Das Feuer im Ofen geht langsam aus, die Glut knackt und zischt. Lil sagt, ich solle im Gästezimmer schlafen. Satan folgt mir durch die Tür, streckt auf dem Teppich alle viere von sich und furzt.
Eine besondere Erzählstimme
Da die Geschichte sehr von der Erzählstimme des Protagonisten geprägt ist, war es wichtig, diese im Deutschen möglichst treffend wiederzugeben. Mir hilft es in solchen Momenten sehr, Abschnitte oder sogar den ganzen Text laut vorzulesen. Manchmal ein paar Seiten des Originals und dann der Übersetzung. Dabei spüre ich den Erzählrhythmus besser, merke, ob eine vergleichbare Stimmung erzeugt wird.
Es ist allerdings nicht die Erzählstimme allein, die Billy Dickens so sympathisch macht, es sind auch seine Handlungen, sein Wille, sich für Schwächere einzusetzen. Als er einem Jungen zur Hilfe eilt, der im Schulflur verprügelt wird, zieht Billy den Ärger ein paar bulliger Lacrosse-Spieler auf sich. Was für andere ein echtes Problem werden könnte, löst Billy souverän:
»Verzieh dich, Schlangenjunge«, sagt einer von Kyles Bodyguards.
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. So nennen sie mich also?
»Ach, mögt ihr Reptilien auch so gern?«
Ich lasse das Sandwich sinken, hole mein Smartphone heraus. Kyle ist sauer, aber auch sichtlich nervös. Er sagt kein Wort. Ich google das Bild eines Wildschweinjägers, der von einer Diamant-Klapperschlange gebissen wurde, in der Nähe von Yeehaw Junction – den Ort gibt es wirklich, schaut es nach. Der Arm des Jägers ist so dick angeschwollen wie ein Kiefernstamm. Seine Finger sehen aus wie gekochte lila Würstchen.
Ich halte das Smartphone hoch, sodass Kyle und seine Supercrew das Foto sehen können. »Das kann passieren«, sage ich, »wenn man nicht vorsichtig genug ist.«
Kyle wird blass und rückt mit seinem Stuhl von mir weg. »Alter, du bist ein totaler Psycho.«
»Kann ich deine restlichen Doritos haben?«, frage ich freundlich.
Sie stehen alle auf, nehmen ihre Tabletts und gehen, Kyle vorneweg. Nur zur Info: Der Wildscheinjäger ist nicht am Schlangenbiss gestorben. Einen Monat später war er zurück im Wald – aber viel vorsichtiger.
Ich hab das Gefühl, dass Kyle Chin von jetzt an in Ruhe lassen wird.
Informations-Overload
Bei der Recherche im Zuge dieser Übersetzung bin ich immer wieder in Fachforen hängengeblieben und habe begeistert durch mehr oder minder nützliches Tierwissen gestöbert. Wie groß ist eigentlich die Reichweite einer Diamantklapperschlange? (Lieber großzügigen Abstand halten, die Schlange kann blitzschnell über eine Distanz von mehr als der Hälfte ihrer Körperlänge zubeißen.) Bleiben Weißkopfseeadlerpärchen ein Leben lang zusammen? (Nicht alle, aber die meisten). Entsteht die Färbung von Flamingos wirklich erst durch ihre Nahrung? (Ja. Zum Beispiel durch rötliche kleine Krebse.) Ist der Florida-Panther schwarz? (Nein, es handelt sich um eine Unterart des Pumas, diese Panther haben ein rötlichbraunes Fell.) Bringt es im Grizzly-Gebiet wirklich etwas, beim Wandern laut zu rufen und zu singen? Und wenn ein Grizzly vor einem steht: Ist es eine gute Idee, einen Regenschirm über sich aufzuspannen, sich groß zu machen und so den Bären einzuschüchtern? (Na ja, ich verrate hier natürlich noch nicht alles. Die Antworten gibt es im Buch.)
Major Griz Country
Meistens sind es vermeintliche Kleinigkeiten, die mich bei einer Übersetzung ins Grübeln bringen. In dieser Textstelle war es Kurts ironische Kommentar: »For sure. Major griz country.« Für welche Lösung ich mich entschieden habe, steht im Textblock dahinter, einem Ausschnitt aus der deutschen Ausgabe.
The first part of the car ride is almost as unreal as the flight, the highway climbing and dipping through valleys of bright green timber. Every third word out of my mouth is “wow,” so it’s obvious to Kurt that I’ve never been out of Florida. We zigzag through a steep pass called Bear Canyon, and like an idiot, I ask him if it has any bears.
“Uh, yeah. Lots of ’em,” he says.
“I’d love to see a grizzly.”
“Ha, you and two jillion other tourists. I know lots of people born and raised here that have never laid eyes on one.”
“How about you?”
“Nope.”
“Maybe I’ll get lucky,” I say.
Kurt tells me about a roadside attraction that features captive grizzlies. The biggest of the show bears has appeared in major movies. “The place is just a few miles ahead,” he says. “They’re amazing critters. You want to stop?”
“Thanks, but I’d rather see a wild one.”
“Well, they don’t hang out in Livingston.”
“They do in Yellowstone Park,” I say.
“For sure. Major griz country.”
“My dad’s gonna take me there. We see any bears, I’ll text you a picture.”
“Yeah, right,” says Kurt.
Der erste Teil der Autofahrt ist fast so irreal wie der Flug.
Die Straße klettert Berghänge hinauf und taucht in Täler voller leuchtend grüner Wälder ein. Jedes dritte Wort aus meinem Mund ist »Wow!«, für Kurt dürfte es daher ziemlich offensichtlich sein, dass ich Florida noch nie verlassen habe. Wir fahren im Zickzack durch die tiefe Schlucht des Bear Canyon, und wie ein Idiot frage ich ihn, ob es dort Bären gebe.
»Ähm, ja, ziemlich viele sogar«, antwortet er.
»Ich würde gern mal einen Grizzly sehen.«
»Ha, du und zwei Zillionen andere Touristen. Ich kenne viele Leute, die hier aufgewachsen sind und noch nie einen gesehen haben.«
»Und du?«
»Nope.«
»Vielleicht hab ich ja mehr Glück«, sage ich.
Kurt erzählt mir von einer Touristenattraktion mit eingesperrten Grizzlybären. Der größte der Showbären hat sogar schon in Kinofilmen mitgespielt. »Das ist nur ein paar Kilometer von hier«, sagt er. »Das sind unglaubliche Viecher. Sollen wir da vorbeifahren?«
»Danke, aber ich würde lieber einen wilden sehen.«
»Na ja, die hängen aber nicht in Livingston rum.«
»Aber im Yellowstone Nationalpark«, sage ich.
»Sicher, das ist ein echter Grizzly-Hotspot.«
»Mein Vater wird mit mir dahin fahren. Wenn wir Bären sehen, schicke ich dir ein Foto.«
»Ja, bestimmt«, sagt Kurt.
Gern mehr davon!
Es hat richtig Spaß gemacht, an dieser Übersetzung zu arbeiten. Am liebsten würde ich sofort mehr von Billy Dickens lesen – leider ist meines Wissens keine Fortsetzung geplant. Abschließend noch eine Textstelle, die wunderbar vermittelt, wie der Protagonist tickt:
Einmal hab ich gesehen, wie ein Typ absichtlich eine Schlange überfahren hat. Es war eine hübsche kleine Königsnatter, völlig harmlos, die früh am Samstagmorgen die Strathman Lane überquert hat. Es waren keine Autos unterwegs, nur ich zu Fuß mit meiner Angel.
Ich wollte die Schlange gerade von der Straße holen, als irgendein Idiot auf einem hellgelben Motorrad extra über den Mittelstreifen und dann genau über die Schlange fuhr. Dann wurde er langsamer, schaute zurück, um sicherzugehen, dass er sein Ziel getroffen hatte, und raste davon. Er trug keinen Helm, also konnte ich kurz sein zotteliges, grinsendes Gesicht sehen.
Aufgrund ihres langen, gewundenen Nervensystems, dauert es lange, bis eine schwer verletzte Schlange stirbt. Es ist keine schöne Art, abzutreten. Ich hab sie ins Gebüsch gelegt und gewartet, bis sie sich nicht mehr bewegt hat. Dann hab ich ihren glänzenden schwarz-goldenen Körper mit einigen Handvoll Dreck bedeckt – keine tolle Beerdigung, aber ich hatte es eilig.
Kaum war ich nach Hause gejoggt, sprang ich auf mein Fahrrad und fuhr jede Straße in der Nachbarschaft ab. Dann das nächste Stadtviertel, immer weiter. Irgendwann fand ich das gelbe Motorrad. Es stand vor einem eingeschossigen Haus, das dringend ein neues Dach und einen frischen Anstrich brauchte. Der zottelige Fahrer hing vor dem Haus ab, trank Mountain Dew und plapperte ins Telefon. Er bemerkte mich gar nicht, als ich vorbeifuhr.
Was später passiert ist, spielt keine Rolle. Ich hab gehört, dass das Motorrad des Schlangenmörders auf mysteriöse Weise am Boden eines Kanals gelandet ist. Als er daraufhin zur Polizei gegangen ist, haben sie bemerkt, dass er ungefähr siebzehn offene Strafzettel hatte. Jetzt fährt er auf einem Fahrrad durch die Stadt, so wie ich.